Posturologie

Was Posturologie ist, möchte ich an Hand des folgenden Beispiels aus meiner Praxis erklären, welches 2022 auch in der in der Zahnärztezeitschrift SOM (Systemische Orale Medizin) publiziert wurde:
Ein 19-jähriges Mädchen litt an 2-3 Tagen pro Woche an rechtsseitiger Migräne. Die übrigen Tage verspürte sie einen niederschwelligen Dauerkopfschmerz. Die Beschwerden begannen im Alter von 11 Jahren und wurden zunehmend häufiger und stärker. Von 12-15 Jahren hatte sie eine feste Zahnspange getragen Ein besonderes, auslösendes Ereignis war nicht zu finden, alle Laboranalysen waren vollkommen normal. Bei der osteopathischen Untersuchung fielen ein besonders rechts stark angespannter m. trapezius und eine LWS-Skoliose mit leichter Lordose auf. Das Becken war nach anterior verschoben. Im Bereich des Cranio-Zervikalen Übergangs war rechts eine stark druckdolente Stelle am Ansatz des m. trapezius tastbar. Die Patientin berichtete, dass von dieser Stelle aus auch die Migräneanfälle ausgingen. Die Lösung dieses Falles habe ich Dr. Antonio Fimiani aus Neapel zu verdanken, in dessen Seminar ich einen ähnlichen Fall erleben durfte.
Seither ist die posturologische Untersuchung aus meiner Migräne-Ursachenanalyse nicht mehr wegzudenken. Um den Untersuchungsgang zu verstehen, muss ich zunächst ein wenig erklären:
Der Trigeminusnerv, ohne dessen Aktivierung kein Migräneanfall möglich ist, ist gleichzeitig der posturale Nerv: Die Hautrezeption und die Propriozeption der vorderen Hälfte des Kopfes, von Augen, Mund, Zähnen, Zungenspitze und Zungenrand werden über die Trigeminus-Kerne C1 und C2 auf Nackenmuskeln (m. rectus capitis major und – minor, m. obliquus capitis superior und –inferior und- lateralis) übertragen.
Der Trigeminusnerv reguliert das Gleichgewicht zwischen den Augenmuskel und den Kaumuskeln. Die Augenmuskeln steuern die Schädelachse, die Kaumuskeln passen den Unterkiefer an die Schädelachse an. Aus diesem Grund kann man sagen, dass ein Mensch, der seinen Kopf nicht frei um ca. 90Grad nach links und rechts drehen kann, einen von den Augenmuskeln ausgehenden Muskelzug und einen aktivierten Kaumuskel hat, die beide die Nackenmuskulatur stören. So ist beispielsweise bekannt, dass jede Konvergenzstörung und jede Heterophorie der Augen zu einer muskulären Asymetrie im Zervikal- und Scapularbereich führt. Es muss daher zwangsläufig auch zu einer Beeinflussung des Kauapparates kommen.
Unsere Körperhaltung wird in den Basalganglien und andern Hirnregionen (Kleinhirn, Thalamus, Colliculus superior, Nuclei vestibulare) aus den Einflüssen von Augenmuskeln, Kaumuskeln und Haut, (insbesonderen der Haut der Fußsohlen) berechnet. So kann beispielsweise ein kleiner Augenmuskel oder Kaumuskel eine ganze myofasziale Kette (wie von Myers in seinem Buch „Anatomy-Trains beschrieben) von Kopf bis Fuß anspannen und die Wirbelsäule in eine Fehlhaltung und eine Skoliose ziehen. Dementsprechend sind Fehlhaltungen und Skoliosen also die Folge von asymetrisch gespannten Augenmuskeln, Kiefermuskeln und Fußmuskeln und lassen sich auch über diese untersuchen und letztendlich auch kausal behandeln.
Dr. Antoniio Fimiani aus Neapel hat nun entdeckt, dass es 2 neuromuskuläre Züge gibt, die er Flaschenzüge nennt und die sich von den Augenmuskeln der einen Kopfseite über den Tractus Tectospinalis auf die Nackenmuskeln, Rückenmuskeln und Beinmuskeln der anderen Körperhälfte auswirken.
Der obere Flaschenzug beginnt mit den oberen Augenmuskeln: Rectus superior, Obliquus superior, Rectus medialis, deren Aktivierung zur Anspannung des Trapez-Muskels und /oder des Splenius colli- Muskels der Gegenseite führt. Die Anspannung des rechten Trapezmuskels führt dazu, dass die rechte Schulter angehoben wird und der Kopf zur rechten Seite geneigt wird.
Der untere Flaschenzug beginnt mit den unteren Augenmuskeln: m.rectus inferior, m.obliquus inferior, und m. rectus lateralis und führt zu einer Anspannung des m.sternocleidomastoideus auf der Gegenseite.
Zusätzlich zu diesen beiden Spannungsketten wirken sich 3 Kaumuskeln auf folgende Weise aus: Der m.dicastricus wirkt auf den m.splenius cervicis derselben Körperhälfte und sein Hypertonus bewirkt langfristig eine Skoliose der oberen BWS. Der m.splenius cervicis hat seinen Ursprung an den Dornfortsätzen des 3.-6. Brustwirbels und setzt an den Querfortsätzen der oberen 3 Halswirbel an. Bei einseitiger Anspannung neigt und dreht er den Kopf zur gleichen Seite oder, bei beidseitiger Anspannung wird der Kopf in den Nacken gezogen und es kommt zu einer Streckung der Halswirbelsäule.
M. masseter und m. digastricus aktivieren den m. sternokleidomastoideus derselben Köperhälfte, wodurch der Kopf auf derselben Seite nach vorne gezogen wird.
Auch der m. pterigoideus lateralis und der m. temporalis aktivieren, ähnlich wie der obere Flaschenzug wieder den m.trapezius. Der Unterschied ist nur, dass der m. pterigoideus lateralis und der m. temporalis auf derselben Körperseite zur Anspannung des m.trapezius führen, während der obere Flaschenzug auf Grund der diagonal durch den Schädel verlaufenden Sehbahnen zur Anspannung des m. trapezius auf der Gegenseite führt.
Der m.temporalis ist wiederum Teil einer muskulo-faszialen Kette, die auf den m. trapezius, und den m. quadratus lumborum derselben Körperseite einwirkt und so eine Skoliose der LWS verursachen kann.
Stellt man nun den Patienten mit geschlossenen Füssen hin und klebt einen winzigen Magneten auf den richtigen Muskel über oder unter dem Auge und im Bereich der Kiefermuskeln, so wird sofort die ganze neuromuskuläre Kette von Kopf bis Fuß entspannt und der Patient kann den Kopf schlagartig viel weiterdrehen als ohne Magnet. Inhibiert man die betroffenen Augenmuskeln und die betroffenen Kaumuskeln gleichzeitig mit 2 Magneten, so addiert sich die Wirkung und der Kopf kann noch weiter gedreht werden.
Meine 19-jährige Patientin bat ich also zunächst im Stehen und mit geschlossenen Beinen den Kopf so weit wie möglich nach links und anschließend nach rechts zu drehen. Auffällig war, dass sie den Kopf nur 30 Grad nach links drehen konnte und 40 Grad nach rechts.
Ich klebte also bei der Patientin einen Magneten zunächst direkt über das linke Auge, und testete die Rotation des Kopfes erneut. Sofort konnte sie den Kopf nach links und rechts auf 60 Grad drehen. Diesen Effekt konnte ich weder mit dem Magneten über dem rechten Auge noch mit dem Magneten unter dem linken oder rechten Auge erzielen.
Die Schlussfolgerung war also, dass der linke obere Flaschenzug (ausgehend vom m. rectus superior, m.obliquus superior und m.rectus medialis) mit seiner Wirkung auf den m. temporalis auf der Gegenseite an der Rotationseinschränkung des Kopfes Schuld war. Die Stimulation von m. rectus superior links verursacht eine Anspannung des m.temporalis, des m. trapezius sowie des m. quadratus lumborum jeweils rechts .
Ich ließ nun den Magneten zunächst unter dem linken Auge kleben und begann mit der Untersuchung der Kiefermuskeln. Ziel war einen weiteren Muskel zu finden, der die Kopfrotation einschränkt. Ich klebte nacheinander einen Magneten auf den hinteren Ast des m. temporalis, den m. digastricus und den m. masseters. Erst links, dann rechts.
Als der Magnet auf dem rechten hinteren Ast des m. temporalis klebte, bat ich die Patientin erneut den Kopf soweit sie konnte in beide Richtungen zu drehen. Und siehe da! Plötzlich konnte sie den Kopf um 90 Grad frei in jede Richtung drehen. Den gleichen Effekt konnte ich übrigens auch erzielen, als die Patientin ein Watteröllchen rechts zwischen die beiden letzten Backenzähne klemmte, was ebenfalls den m. temporalis dazu bringt sofort loszulassen. Die Patientin war sehr verwundert über die plötzliche Bewegungsfreiheit. Sie rief: „Unglaublich! So frei hat sich mein Nacken trotz zahlreicher physiotherapeutischer und osteopathischer Behandlung schon jahrelang nicht mehr angefühlt!“
Jetzt wurde auch offensichtlich, warum der Cranio-Zervikale Übergang gerade rechts im Bereich des m. trapezius so stark gespannt und druckdolent war: Er wurde sowohl vom linken oberen Neuro-myo-faszialen Flaschenzug als auch vom rechten m. temporalis getriggert und übte im Bereich der Linea nuchae superior eine starke einseitig rechte Zugspannung auf die Galea Aponeurotica des Kopfes und damit auch auf den m. frontalis und die oberen Muskeln des rechten Auges aus. Hierdurch wurden sowohl die Nn. occipitalis major und minor als auch der Gesicht, Kiefer und Zähne sensibel innervierende Trigeminusnerv irritiert, welchen wir als Migränenerv kennen. Damit erklärte sich auch warum die Migräneattacken immer rechts auftraten.
Nun ist es natürlich für eine junge Frau keine angenehme Idee längere Zeit mit 2 Magneten im Gesicht herumzulaufen. Daher probierten wir nun vom anderen Ende der neuro-myo-faszialen Linie aus, also von den Fußsohlen aus, mit posturologischen Einlagen nach Bernard Bricot die Myofaszialen Ketten zu beeinflussen. In der Mitte dieser Einlagen ist ein galvanisches Element eingearbeitet. Durch symmetrisch wirkenden Reiz unter den Fußsohlen wird das Gehirn gezwungen sich ein neues, stabiles Gleichgewicht zu suchen. Die zentrale Erhöhung (verstärkter Druck) unter der Fußmitte veranlasst das ZNS die Muskelketten reflektorisch zu aktivieren um die Fußmitte zu entlasten. Zudem werden die Pronatoren und die Supinatoren der Füße entspannt.
Wie Dr. Bernard Bricot und Dr. Fimiani erforscht haben, finden die Magnete um die Augenmuskeln und auf den Kaumuskeln ihre Entsprechung in kleinen Korkhalbmonden, welche unter die posturologischen Einlagen geklebt werden. Der Magnet über dem linken Auge entspricht einer kleinen Korkunterlage unter dem rechten Großzehengelenk und der Magnet auf dem rechten m. temporalis entspricht einer Fersenerhöhung am rechten Fuß um in der Regel 2mm-4mm.
Wir nahmen also die Magnete wieder ab und testeten nochmal die Rotation ohne Magnete. Wie erwartet war sie wieder genauso eingeschränkt wie am Anfang.
Nun stellte ich die Patientin auf die posturologischen Einlagen mit den Korkunterlagen unter dem rechten Großzehengelenk und der Fersenerhöhung rechts.
Wie erwartet war die Rotation des Kopfes mit einem Mal wieder bei 90 Grad in beide Richtungen. Ich verordnete der Patientin also die posturologischen Einlagen und
bat sie alle 3 Monate zur Kontrolle wiederzukommen.
Man kann davon ausgehen, dass nach etwa 30 Monaten konsequenten Tragens der Einlagen in allen Schuhen die neue, entspannte Haltung im Gehirn neu programmiert und abgespeichert ist und damit keine Einlagen mehr notwendig sind. Bis dahin fallen die Patienten wieder in die alte Fehlhaltung zurück sobald sie nicht auf den Sohlen stehen.
Nach 3 Monaten konnte die Patientin mir berichten, dass sie statt 2-3 Mal in der Woche nur noch 2 Mal im Monat Migräne habe. Nach 6 Monaten hatte sie nur noch alle 5-6 Wochen Migräne und nach 9 Monaten erzählte sie mir glücklich, dass sie seit 3 Monaten keine Migräne mehr gehabt habe.


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